Heute freuen wir uns ganz besonders, Euch einen sehr persönlichen Gastbeitrag zu unserer Blogparade „Komplexität – in Projekten und darüber hinaus …“ präsentieren zu können. Doch lest selbst, was Michael Cramer schreibt.
Das Pendel meines Vaters
Ein anschauliches Beispiel für Komplexität
Von Michael Cramer
Als ich ein kleiner Junge war, stand im Arbeitszimmer meines Vaters ein faszinierendes Pendel. Das Pendel war magnetisch, und man konnte es zwischen frei platzierbaren Magneten hin- und herschwingen lassen. Mein Vater erklärte mir, dass niemand – auch nicht der schlaueste Wissenschaftler – vorhersagen könne, in welchen Bahnen das Pendel schwingen, und wo es sich am Ende befinden würde. Ich verstand das als Herausforderung, und verbrachte als Kind viel Zeit damit, dieses hypnotische Magnetpendel zu beobachten, und seine Bahnen vorherzusagen.
[Anmerkung: Aus heutiger Sicht war das wahrscheinlich in erster Linie ein cleverer Trick meines Vaters, um sich trotz der Anwesenheit eines kleinen Jungen für ein paar Minuten ungestört auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Chapeau!]
Natürlich vergebens.
So sah das aus:
Viele Jahre später suchte ich für meine Projektmanagement-Vorlesung nach einem anschaulichen Beispiel für Komplexität, und irgendwann – Sie ahnen es bereits – fiel mein Blick auf ebendieses Pendel, das mittlerweile in mein eigenes Arbeitszimmer umgezogen war. Und hier, direkt vor meiner Nase, war das perfekte Beispiel, das die wichtigsten Eigenschaften eines komplexen Systems intuitiv begreifbar macht:
- Das System kann scheinbar simpel sein, besteht aber aus Einflussfaktoren, die sich auch untereinander beeinflussen
(Besonders anschaulich wird das Pendel, wenn man die einzelnen Magneten als „Stakeholder“, „Anforderungen“ etc. bezeichnet) - Eine kleine Veränderung eines Einflussfaktors kann ein völlig anderes Verhalten des Gesamtsystems zur Folge haben
- Es ist nicht vorhersagbar, wie sich das System verhalten und „einpendeln“ wird, auch bei noch so großem Expertenwissen
(Der großartige Frederik Brooks hatte ja bereits im Jahr 1986(!) postuliert, dass ein „modernes“ komplexes Softwaresystem in seiner Gesamtheit nicht präzise im Vorhinein beschreibbar ist [vgl. F. P. Brooks, No Silver Bullet – Essence and accidence in software engineering, 1986] – es soll Leute geben, die das auch im Jahr 2015 noch immer versuchen…) - Der tatsächliche Verlauf des Pendels ist im Nachhinein erklärbar und nachvollziehbar
(Ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zu chaotischen Systemen, deren Verlauf auch im Nachhinein nicht erklärbar ist – und die perfekte Steilvorlage für all die Besserwisser, die uns im Nachhinein erklären, dass „es ja so kommen musste“)
Neben dem Pendel, im selben Regal, liegt übrigens auch die Taschenuhr meines Großvaters. Deren Uhrwerk veranschaulicht den Gegenentwurf: Ein kompliziertes System, im Aufbau viel diffiziler als das Pendel. Aber ein Experte kann ein Uhrwerk komplett am Reißbrett entwerfen, exakt nach Plan konstruieren und den Zustand des Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt sehr präzise vorhersagen.
Seither haben sich das Pendel meines Vaters und die Uhr meines Großvaters als anschauliche Beispiele für den Unterschied zwischen komplexen und komplizierten Systemen vielfach bewährt. Sie verdeutlichen intuitiv, dass wir mit den klassischen Techniken zur Lösung komplizierter Probleme zwangsläufig an komplexen Problemen scheitern müssen. Und wenn ich mich selbst wieder einmal bei dem Versuch ertappe, ein Projekt zu detailliert zu planen, ein Softwareprodukt zu detailliert zu spezifizieren, dann holt mich ein Blick auf das Pendel wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Zum Autor
Michael Cramer – hier mit seinem Vater und Großvater – ist Projektmanagement-Berater und Dozent und einer der Organisatoren des Münchner PM Camps. Wenn Ihr weitere anschauliche Beispiele für Komplexität kennt, freut er sich auf Eure Anregungen und Diskussionen auf Twitter (@dimjon).
Vielen Dank Michael!
Hallo Michael,
wirklich schöner Beitrag.
Du schreibst:
•Der tatsächliche Verlauf des Pendels ist im Nachhinein erklärbar und nachvollziehbar
(Ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zu chaotischen Systemen, deren Verlauf auch im Nachhinein nicht erklärbar ist – und die perfekte Steilvorlage für all die Besserwisser, die uns im Nachhinein erklären, dass „es ja so kommen musste“)
Woher kommt dieses Unterscheidungkriterium -Komplex/Chaos (Aus welchem Wissenschaftsgebiet) – und welche praktische Relevanz hat es?
Danke Grüße Michel
Servus Michel,
herzlichen Dank… 🙂
Ich bin erstmals beim Synefin-Framework von Dave Snowden über diesen Aspekt komplexer Systeme gestolpert, und die Nachvollziehbarkeit des Verlaufs als Unterscheidungskriterium hat mir gut gefallen. Snowden befasst sich mit der Komplexität von Organisationen und wird allgemein der Disziplin „Knowledge Management“ zugeordnet. Im Harvard Business Review von 2007 schreibt er:
„Though a complex system may, in retrospect, appear to be ordered and predictable, hindsight does not lead to foresight because the external conditions and systems constantly change.”
(https://hbr.org/2007/11/a-leaders-framework-for-decision-making)
Wir können also bei komplexen Systemen im Nachhinein Muster erkennen und erklären, wie das System seinen aktuellen Zustand erreicht hat, da es auf relativ stabilen, aber interdependenten Ursache-Wirkungs-Prinzipien aufgebaut ist. So ist beim Blick auf das Regenradar der letzten vier Wochen sehr gut nachvollziehbar, wie das aktuelle Wetter zustande gekommen ist. Trotzdem sind wir nicht in der Lage vorherzusagen, ob es in vier Wochen regnen wird. Bei chaotischen Systemen können wir auch in der Retrospektive keine Muster erkennen, da sich die Ursache-Wirkungs-Beziehungen ständig ändern.
Das Synefin-Framework macht auch Aussagen über die praktische Relevanz. So kann ich als Manager komplizierte Probleme analysieren und detaillierte Lösungspläne verfolgen, während ich bei komplexen Problemen emergente Strategien anwenden sollte, z.B. mit agilen Managementmethoden. Bei chaotischen Systemen hingegen ist meine einzige Chance, situationsbedingt zu reagieren. Synefin beschreibt auch noch eine vierte Kategorie Simpler Probleme, die mit Best Practices, Standard Operating Procedures etc. erfolgreich adressiert werden können. Hieraus folgt, dass ich als Projektmanager nur dann erfolgreich sein kann, wenn ich die Art des Problems korrekt erkenne und eine dazu passende Problemlösungsstrategie wähle.
Hallo Michael,
vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Du hast wirklich ein Talent die Dinge zu erklären.
Der Ansatz von Snowden und Boone ist durchaus interessant, ich muss mir da allerdings noch eine Meinung bzgl. des
Ansatzes Komplex/ Chaos bilden. Deine praktischen Erläuterungen finde ich passend.
Etwas amüsant ist, dass ich Snowden bislang nicht kannte und diese Woche gleich zweimal auf Ihn gestoßen werde.
Nämlich einmal durch dich und einmal durch die SCiO (http://www.scio.org.uk/) welche stark mit dem Viable System Model arbeitet (Was ich ja auch tue).
Und hier gibt es einen ganz spannenden und ausgewachsen Disput zwischen der SCiO (http://cognitive-edge.com/blog/the-table-napkin-test/) und Snowden.
Klein ist die Welt.
Beste Grüße Michael